Heute Morgen bin ich in Tränen erwacht. Ich habe geträumt, dass mir meine Jugendfreundin ein kurzes Stück aus dem Allegro des Chopin Piano Concerto Nr 1 vorspielt. Oh wie wundervoll. Gerade die Tatsache, dass ihre Finger die Tasten der Noten des erwarteten Höhepunkts der so schönen Stelle fanden, machte alles noch viel schöner. Denn der Höhepunkt des genussvollen Leidens beim Musizieren wie beim Zuhören ist das Erreichen des musikalischen Leidenshöhepunktes. Verpatzt man den oder kommt er nicht, ist es wie ein Kübel Eiswasser über den Kopf.
So lag ich in Tränen und musste sofort das Konzert auf meinem Handy einstellen. Von Seong-Jin Cho gespielt. Meine Güte spielt der Junge schön. Wie der zu seinem Ziel kam, wollen wir jetzt nicht wissen, sonst kommen uns anderweitig die Tränen. Sein Klang, seine Ausdrucksformen, seine Fingerfertigkeit, man hat das Gefühl er streichle, knete und massiere seinen Flügel. Wenn ich doch nur annähernd so gut mein Instrument beherrschte... Ja, das sage ich, eine professionelle Musikerin. Aber ich bin einfach zu viel auf dem Skateboard und an Parties rumgetanzt in meiner Jugend. Technik kommt einem nicht in die Schoss gefallen. Nur Talent. Zudem braucht es einen Charakter dazu und noch Eltern, welche einem täglich im Üben begleiten. Unerbittlich von klein auf. Hätte ich solche Eltern gehabt, hätte ich wohl die Blockflöte schon früh geschmissen. Ich liess mir ja schon früh nicht dreinreden und kämpfte unerbitterlich für meine Freiheit in allem.
So bin ich hier jetzt in meiner Freiheit in Tränen auszubrechen bei Chopin‘s Klavierkonzert. Oder bei Colyn‘s DJ Set. Und beim Anblick von lachenden Gesichtern, von schönen Landschaften, von Lebensgeschichten, von mich berührender Kunst. Stellen sie sich vor, an der Vernissage von Jean-Michel Basquiat in der Fondation Beyeler bin ich in Tränen ausgebrochen, weil seine Bilder mich so tief berührten. Ich musste nach draussen und ein paar Minuten verschnaufen bis ich gefasster wieder in die Ausstellung konnte. Peinlich.
Und immer noch klimpert es Chopin während ich schreibe und die Tränen fliessen. Den muss ich wohl gleich ausschalten, denn jetzt ist Schminke und Hü angesagt. Meine SchülerInnen warten. Und ihnen werde ich die Schönheit der Musik lehren. Zum Beispiel Robert de Visée‘s Theorbenstücke.
Ach ach, welche Melancholie!